Seit den 90er Jahren hantieren wir mit dem Begriff VUCA herum, ein Akronym, das in amerikanischen Militärkreisen entstanden war und versuchte, eine volatile, ungewisse, complexe und ambivalente Welt nach Ende des Kalten Krieges zu umschreiben. Die Bedeutung von volatil spüren wir seit der Anhebung der Benzinpreise, der Energie- und Lebensmittelkosten und einer Inflation, die auf 7% hochgeschnellt ist, alle ganz persönlich in unseren Brieftaschen (und nicht einmal unsere Top-Hirne Mario Draghi oder Madame Lagarde hatten das auch nur irgendwie geahnt …). Das wir in einer ungewissen Welt leben, haben wir alle spätestens seit Corona am eigenen Leib erlebt: geht die Schule jetzt auf, und wenn ja mit Masken oder ohne? Dürfen wir zum Skifahren? Dürfen wir uns als Familie zu Weihnachten treffen? Und es ist ja nicht vorbei! Kein Mensch kann heute sagen, wie es in der Ukraine weitergeht, oder ob jetzt China in Taiwan verrückt spielen wird; kein Mensch weiß, wie sich die Wirtschaft in den nächsten Jahren entwickelt (sogar die Wirtschafts-Weisen müssen ihre Prognosen wieder und immer wieder empfindlich nachkorrigieren, ihre Vorhersagen sind kaum mehr als ernste Basis für Kalkulationen verwendbar). Wir können nicht einmal prognostizieren, ob wir im Herbst wieder eine Covid-Welle mit Home-Office etc. haben werden. Keine Ahnung, was in 3 Monaten sein wird! Das hat damit zu tun, dass unsere globalisierte Welt äußerst complex geworden ist. Einfach Ursache-Wirkung-Gleichungen greifen nicht mehr oder zu kurz, die Zusammenhänge in diesem Welt-System von komplexen Systemen sind so vielschichtig, dass die Gleichung immer wieder zu viele Unbekannte aufweist. Kaum setzen wir in unserer Gleichung ein Rufezeichen, tun sich zig neue Fragezeichen wieder auf. Und so stockt halt mal diese oder jene Lieferkette, dann hängt ein Schiff im Suezkanal, dann blockieren die Russen die Getreideausfuhren, und weil grad halt auch kein Gas geliefert kommt, gibt es dieses nicht mehr und jenes nicht mehr. Echt kompliziert! Nein, komplex, denn in einer komplizierten Welt half noch Wissen aus der Patsche, in der komplexen Welt reicht dieses nicht aus; hier braucht man auch noch Intuition, Ahnung, Gespür, um erfolgreich bestehen zu können. Man braucht auch eine Art neue „Klugheit“, um die ambivalenten Aussagen „lesen“ und verstehen zu können. Wer hat denn z.B. – jenseits aller Fake-News – recht? Die Impfstoff-Befürworter oder die Impfstoff-Ablehner („wissenschaftliche“ Argumente führen sie ja beide ins Feld, weshalb man ja auch „der Wissenschaft“ nicht mehr traut); und sind die öffentlich-rechtlichen nun Lügenpresse oder nicht? Ambiguität und Ambivalenz, und die Frage, die einst Pilatus stellte: „Was ist Wahrheit?“ scheint eine der relevantesten überhaupt auch für unsere Zeit zu sein.
Soweit VUCA. Und wir hatten ja auch recht gut auf VUCA reagiert: wir haben gelernt, dass diversifizierte Teams besser reagieren als eine eierlegende Wollmilchsau als Chef, wir haben agile Methode entwickelt, Scrum und Design-Thinking, wir haben die Vorteile einer wertschätzenden Feedback-Kultur entdeckt und arbeiten nun fleißig auf Miro-Boards interaktiv und co-creativ von zu Hause aus zusammen.
Nun kommt aber auch noch BANI. Auch hier haben wir es mit einer Abkürzung zu tun. Das B steht für brittle, brüchig. Ja, unsere Welt ist porös geworden und einigen dämmert, dass wir vielleicht gar nicht auf Stein, sondern auf Sand gebaut haben und dieses poröse Fundament gerät nun allmählich – so wie unsere sicher geglaubten Gletscher – in Bewegung. Das heilbringende Versprechen, der Markt würde schon alles regeln und Wohlstand für alle bringen, scheint als Credo Risse zu bekommen. Die Gleichung von unendlichem Wachstum bei endlichen Ressourcen könnte vielleicht gar bnicht aufgehen? „Nie wieder Krieg in Europa“ hat wohl auch nicht so gut funktioniert, der Generationenvertrag funktioniert nicht mehr, weil wir viel zu viele Alte und zu wenige junge Arbeitende haben. Sogar die gute alte Katholische Kirche bröckelt in sich zusammen und verzeichnet Austritte wie noch nie. Viele unserer Glaubenssätze, viele Annahmen über unsere Welt sind brüchig geworden. Das macht vielen Menschen Angst. Das A in BANI steht für anxious, ängstlich. Viele Menschen haben Sorge vor einer Ausweitung oder eines Andauerns des Krieges und anscheinend hatten laut Umfragen schon lange nicht mehr so viele Jugendliche Angst vor der Zukunft. Angst vor Klimakatastrophen, Angst, dass die Inflation das Ersparte auffrisst, Angst, dass am Ende vom Geld noch zu viel Monat übrig ist. Wolken der Angst oder zumindest der Ängstlichkeit gepaart mit einem sorgenvollen Gefühl der Unsicherheit umhüllen uns. Das hat eben damit zu tun, dass unsere Welt nicht mehr linear planbar ist; das N aus BANI steht für non-linear, nicht-linear, sondern eben auf und ab, hin und her, durcheinander und teilweise chaotisch: „Nix ist fix, selbst das nicht“. Managen konnte man in einer linearen Welt, heute ist Management scheinbar hoffnungslos überfordert. Auch weil unsere Welt incomprehensible geworden ist, teilweise unverständlich, und immer, wenn wir Menschen etwas nicht verstehen, werden wir unsicher und ängstlich.
Trotzdem könne wir uns auf eine VUCABANI-Welt vorbereiten. Einmal dadurch, dass wir sie zur Kenntnis und ernst nehmen und akzeptieren und nicht so tun, als ob es eh bald wieder zurück zur Normalität gehen würde. Es wird nicht mehr „normal“ – definitiv nicht – vielleicht weil „das Normale“ ja das Problem war. Wir sollten beginnen, ein New Possible zu denken, neue Möglichkeiten für unsere Gesellschaft, denn jede Krise – und in einer solchen befinden wir uns – lässt großartige Opportunitäten zu.
Der Angst begegnen wir durch Mut und Selbstbewusstsein, und beides kann trainiert werden. Wir dürfen in den neuen Zeiten und Herausforderungen keine unbewältigbaren Monster sehen, sondern einladende Möglichkeiten, in bisher noch unerforschte Galaxien vorzudringen. Auch Resilienz und Widerstandsfähigkeit können wir uns antrainieren, um nicht mit jeder neuen Krise – davon wird es noch einige geben – umzufallen. Ambivalenz und Unverständlichkeit bewältigen wir durch Wissen und Können einerseits, und durch Intuition und Erfahrung andererseits. Letztere können nicht gelernt, aber geschult werden. Der Nicht-Linearen Welt begegnen wir durch Hybrides Denken, das wir erst noch lernen müssen: Denken in Möglichkeiten, in Varianten, in sowohl – als auch, in divergent und konvergent, laterales und iteratives Denken, antizipativ und prädiktiv. Da haben wir noch einiges an neuen Denkstrukturen zu trainieren. Wir brauchen eine ganze Reihe von neuen Complexitenzen – neue Kompetenzen für eine neue complexe Welt. Und für eine brüchig gewordene Welt brauchen wir definitiv eine neue Werte-Diskussion, wohin wir als Menschheit überhaupt wollen?
Foto: Priscilla du Preez
Foto: Studio Elas Sinich kurz vor Beginn der Sendung 8x80 am 13.9.2022
Der obige Beitrag wurde von der Südtiroler Wirtschaftszeitung Nr. 33/22 am 2.9.2022 veröffentlicht