Es war nach Columbus nicht mehr sonderlich schwierig, an die Existenz eines neuen Kontinents zu glauben. Es war nach den Beatles nicht mehr waghalsig, eine Boyband zu gründen. Es war nach Bill Gates nicht mehr so verrückt zu glauben, dass es in jedem Haushalt mindestens einen Computer geben würde. Es ist nach Zuckerberg nicht mehr schwierig, die Macht und die Möglichkeiten der social media anzuerkennen.
Unter Antizipation ist die bewusste Vorwegnahme von Ereignissen zu verstehen oder auch nur eine vorweggenommene Erwartungshaltung. Man erwartet, dass etwas eintreffen könnte, oder dass es früher eintreffen könnte als gemeinhin angenommen. Man antizipiert etwas, zieht etwas vor, indem man in Betracht zieht, dass es bald geschehen könnte.
Ein anticipo ist eine Vorauszahlung und die Etymologie erklärt dasselbe: ante, also: früher und capio: etwas nehmen. Man nimmt etwas an und vorweg. Jemand kann auch in anticipo zu einem Termin kommen, was in Italien tatsächlich sehr selten passiert; er/sie ist dann also der vereinbarten Zeit voraus; man ist früher da als erwartet.
Bei den alten Römern, den Meister der Kriegsführung, meinte es, ein Gebiet antizipativ zu besetzen. Bevor der Feind an einem strategisch wichtigen Ort seine Zelte aufschlagen konnte, war man besser früher da, um es zu verhindern. Man hatte den Platz eingenommen, noch bevor jemand anderer da war.
Heute ist der Begriff im Sport zwar nicht gerade geläufig, aber man weiß, was darunter gemeint ist. Dem deutschen Bomber der Nation Gerd Müller hatte man ehrfürchtig nachgesagt, immer da zu stehen, wo der Ball in wenigen Augenblicken grad hingespielt würde und siehe da, er war tatsächlich genau da und konnte „abstauben“, d.h. den Ball relativ ungehindert ins Tor stupsen. Einem guten Trainer wird zugetraut, ein wichtiges Spiel bereits im Voraus „lesen“ zu können, d.h. zu ahnen, wie die gegnerische Mannschaft spielen wird, mit welcher Aufstellung sie antreten wird, welche Taktik sie umzusetzen versuchen wird, und welche Schwach- und Angriffspunkte sich daraus ergeben könnten.
Antizipationsfähigkeit ist die Kunst der Vorwegnahme. Antizipation ist vorausschauend, über den Horizont der jetzigen Möglichkeiten hinweg. Und das kann wesentliche praktische Vorteile bringen. Deshalb arbeiten Firmen ja mit „Scouts“, die dahin geschickt werden, wo sich die „Szene“ trifft, denn hier – in der Szene – werden die Trends gemacht, oder zumindest gedacht, oder geahnt, und es ist gut, am Puls der (zukünftigen) Zeit zu haben. Was die Szene-Kids anziehen, was sie trinken, wie sie sich verhalten, welche Technologien sie verwenden sind wesentliche Beobachtungen, die in die Produktentwicklung einfließen können. Man ahnt, diese Pioniere würden vorleben, was bald die Masse nachleben wird und man ist am Zahn der Zeit, wenn man sie beobachtet.
Nicht das sehen, was heute cool ist, sondern – antizipatorisch - das, was morgen cool sein könnte. Wohin geht die Reise? Wie wird die Konstellation der Zukunft in diesem Sektor sein. Scouts sind Pfadfinder und müssen ja manchmal den Weg bahnen durch das Dickicht, wo kein Weg ist, oder wo man keinen Weg sieht oder wo er mittlerweile wieder überwachsen sind; und da hat der Scout eben eine Ahnung, wohin es gehen könnte. Gerade im Dickicht der Information brauchen Sie jemand, der sich orientieren kann und Weg erahnt.
Natürlich hat Antizipation einerseits mit Zahlen und Fakten zu tun bzw. mit der Fähigkeit, diese “lesen“ zu können. Aber Zahlen entstammen meist der Vergangenheit und messen, was war und wie es ist. Okay, aus den Zahlen kann man schließen und errechnen, wie es sein könnte, vorausgesetzt, es geht so weiter und die Dinge bleiben weiterhin in ihrem ursächlichen Zusammenhang. Aber in einer Zeit der disruptiven Innovationen genügt das allein nicht mehr. Es geht nicht mehr nur mehr um Weiterentwicklung und Weiterdenken des Bisherigen: die Glühlampe ist nicht die Weiterentwicklung der Kerze, so wie der Computer nicht die Weiterentwicklung des Rechenschiebers war.
Wir sind zum Beispiel seit einem Jahr im Übergang auf Remote. Es verlagert sich; wenn der Berg nicht zum Propheten geht, dann geht der Prophet zum Berg, oder war das umgekehrt? Also wenn die Schule zum Schüler nach Hause kommt und wenn die Arbeit zum Arbeiter nach Hause kommt und wenn generell die Bildung zum Lernenden nach Hause kommt, dann ist es relativ einfach zu denken, dass in nicht allzu ferner Zukunft auch Bereiche wie Sanität, Medizin, soziale Dienste und Pflegedienste nach Hause kommen werden. Wenn nicht mehr der Mensch ins Spital gehen soll, wird das Spital zum Menschen kommen. Wenn die Kirche nach Hause kommt, wenn das Essen nach Hause kommt, werden auch andere Dienste nach Hause kommen und hier kann man durch einfache Parallelismen schon durchaus sagen, was sein wird und man kann sich dementsprechend drauf einstellen.
Es ist kein Weg solange in keiner geht
„Die Zukunft gehört denen, die die Möglichkeiten erkennen, bevor sie offensichtlich werden.“ (Oscar Wilde)