„Auf Sicht fahren“ scheint aktuell die gängigste Strategie zu sein, in der Politik, im Management, im täglichen Leben. Immer häufiger lesen wir dieses Zitat, wie sollte man auch anders. In dieser unsicheren volatilen Welt, wo man heute nicht weiß, was übermorgen sein wird, wo das Zahlenmaterial von heute schon morgen überhaupt nicht mehr stimmt, wo die Bestimmungen der letzten Woche weit entfernte Geschichte scheinen, bleibt einem wohl nichts anderes übrig. Deshalb haben wir auf diesen Seiten schon des Öfteren darauf hingewiesen, wie unsinnig die Bestrebungen nach konsistenten richtigen Forecasts und Prognosen aktuell sind: Sie werden sich eh verändern. Wenn sogar die Riesen ins Straucheln geraten – und die hätten alles notwendige Zahlenmaterial – dann wird´s für alle schwierig.
Das Zeitalter der Aufklärung ist vorbei, definitiv. Wir hatten gelernt vom „Ursache und Wirkung“-Prinzip und aus diesem haben wir nun zwei Jahrhunderte lang unser logisches Handeln abgeleitet. In unserer volatilen Welt sind aber die Zusammenhänge komplex geworden. Monokausales existiert kaum mehr und „wenn-dann“ Erklärungen greifen nicht mehr tief genug. Das ist das Zeitalter des „sowohl als auch“. Deshalb sind wir so oft aufgeschmissen, weil wir als Kinder der Aufklärung immer noch meinen, dass ein A ein B zur Folge haben muss. Stimmt zwar immer noch, aber jedes B wird mittlerweile von hunderten von A´s beeinflusst.
Wir hatten gelernt, dass es Experten gibt, und diese Experten wüssten Bescheid. Unsere schulischen Karrieren waren daraufhin aufgebaut, lange zu lernen, um dann zu Experten zu werden. Experten würden wohl wissen, was zu tun sei. Experten hatten die Erklärung und in unseren Firmen bastelten z.B. die Finanz-Experten wunderbare Vorschauen für die Zukunft. Aber auch Experten durchblicken diese komplexe Welt nicht mehr und deshalb können unsere Handlungen und Entscheidungen nicht mehr an vermeintliche Gewissheiten durch Experten delegiert werden. Auch weil es ja gerade die Experten sind, die sich permanent gegenseitig widersprechen. Jede Blase hat ihre unbeirrbaren Experten.
Wir werden lernen müssen, in einem Zeitalter der Ungewissheiten, das auch in einem eventuellen Post-Corona nicht vergangen sein wird, uns zu bewegen. Wir werden uns von unserem Denken in Lebensversicherungen verabschieden müssen, wir können unser Leben nicht mehr gegen alles absichern. So löblich es ist, wenn Eltern ihre Kinder auch noch in die Oberschule mit ihrem Auto fahren, natürlich mit geschmiertem Pausenbrot, und sie dann auch wieder abholen; wenn sie selbst zum Lehrer und zum Direktor gehen, um über die Lernfortschritte des Sohnemanns oder der Tochter diskutieren, wenn das eigene Kind bei jedem Anzeichen eines Hüstelns (schon vor Corona) zuhause bleiben darf, sind das Auswüchse eines übertriebenen Sicherheits- und Bewahrungsdenkens. Wenn wir als Gesellschaft die Schüler immer noch Bewerbungsschreiben üben lassen und nicht Business-Pläne werden wir Angestellte und Beamte erziehen, für die der „posto fisso“ oberstes anstrebenswerte Berufsentscheidung wird. Wir brauchen – gerade jetzt – mehr Mut zum Risiko, der Umgang mit dem Ungewissen wird auch in Zukunft Teil unseres Lebens und Handelns werden müssen.
Natürlich ist Eindeutigkeit einfacher, gemütlicher und sicherer, Mehrdeutigkeit ist stressig. Aber wir leben in einer neuen Ära der Ambiguitäten und Ambivalenzen und tun gut daran hierfür Muster und Werkzeuge zu entwickeln.
Die aktuell an allen Ecken vielbeschworene Resilienz umfasst auch das Können, in geeigneter Weise mit Unsicherheiten und Risiken umzugehen. Wir sollten „Risiko“ als neues Schulfach denken, denn Risikotauglichkeit, Wagnis, Anpassungsfähigkeit, „navigare a vista“ wird zu den Fähigkeiten gehören, die wir in Zukunft brauchen werden.
In der Kreativkultur, aber auch in jenen Firmen, die den Schritt zu einem „agilen“ Unternehmen gewagt haben, weiß man längst, dass in unseren Zeiten eine „trial and error“-Kultur – Versuche und mache Fehler – neue Wege und neue Perspektiven eröffnen kann. „Lass die Scheiße, die du heute baust, zu deinem Dünger für morgen werden.“ Stattdessen pflegen unsere Schulen noch eine ausgeprägte Fehlerkultur: wer Fehler macht, bekommt eine schlechtere Note, und deshalb vermeiden Schüler – die ja nicht blöd sind - divergente Denkstrategien und spucken unreflektiertes kurzzeitig angelerntes Wissen aus, um den Lehrer zu befriedigen und wieder Ruhe zu haben. Alle Denkfähigkeit wird in Richtung konvergentes Denken gelenkt: nur eine Antwort ist richtig, alles andere ist falsch. Damit wird aber Denkpotential gekettet und defensive Anpassung an das, was gewünscht wird, gefördert. Eine Schule, die eher das Misslingen dokumentiert als das Erschaffen propagiert, ist demotivierend und hilft uns nicht für die Zukunft.
Das famose „selbständige Denken“, das wir seit Jahrzehnten in unseren Schulplänen festgeschrieben hätten, kann ja nicht im Nachplappern von angenommenen bestehenden Weisheiten und festgeschriebenem Wissen liegen. So erzieht man Schafe, aber keine adäquaten Protagonisten für die Welt von Morgen. Selbständiges Denken soll disruptives Denken ermutigen, das – ganz bewusst – über die Meinung der heutigen Experten hinausgehen darf. Deshalb sollten wir – das ist nun aktuell mehr denn je angesagt – Schüler, Studenten und Mitarbeiter – im Bereich Risikokompetenz schulen und alles daransetzen, dass sie sich Risikointelligenz aneignen.
Es braucht einen Paradigmenwechsel des Lernens; wir müssen aufhören, so zu tun, als ob wir alles wüssten, als ob wir alles wissen könnten. Das platonische „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ ist aktueller denn je. Ich weiß nicht einmal mehr, was ich nicht weiß, und das ist äußerst riskant. Aber es ist so und wird wohl auch so bleiben, und man tut gut daran, sich in dieser Welt bewegen zu lernen. Denn: Das ganze Leben ist lebensgefährlich (Philipp Deus uf unsplash)