Wer wird Europameister? Ganz einfach: wer imstande ist, die Potentiale seines Teams am besten zu entfalten und symbiotisch zu aktivieren! Natürlich, es braucht Vorbereitung, hartes Training, körperliche und geistige Fitness, Kampfgeist, das übliche Quäntchen Glück; aber der Sieg gehört dem Team, das imstande ist, die Potentiale, die offensichtlichen aber auch die verborgenen Talente, Stärken und Möglichkeiten – individuell wie kollektiv - am besten in Einklang zu bringen und zu synchronisieren. Wir hatten auch schon Europameister wie Dänemark oder Griechenland; keinesfalls die besten Spieler, keinesfalls die besten Mannschaften, aber Europameister, weil sie imstande waren, das Potential – die vorhandenen Möglichkeiten – zu schärfen, zu entfalten und zur Meisterschaft zu bringen.
Dieser Text ist nicht neu und entstand noch vor der Europameisterschaft. Jetzt, wo die Azurri Campioni sind, stimmt er immer noch, mehr denn je. Die Franzosen hatten zwar ein Arsenal an Einzelstars aufzubieten, die Belgier kamen mit einem eingespielten Team und der Kraft einer erfahrenen und siegesgewohnten Mannschaft, die Engländer hatten immerhin Deutschland verräumt. Der Marktwert der italienischen Spieler lag beim Finale weiter unter dem der Engländer. Aber Trainer Mancini hatte das Potential der italienischen Mannschaft anscheinend nicht nur erkannt (er sagte seinem Team von Anfang an, dieses Mal könnte der Sieg drin sein), sondern voll zur Entfaltung bringen können. Zumindest was die Elfmeterschützen anbelangt, besser als seine Gegner…
potentia
Die alte potentia war bei den Lateinern die Kraft, die Leistung; deshalb liehen sich die Physiker und Mathematiker das Wort für ihre Formeln aus. In einigen Lehrbüchern wird Potential mit der potentiellen Energie übersetzt und hier kommen wir unserer Sache tatsächlich näher.
Der aktuell wohl bekannteste Potentialentfaltungs-Autor und Gründer der Akademie für Potentialentfaltung, der Neurowissenschaftler Gerald Hüther schreibt: „Wenn eine Person Gelegenheit hat, die in ihr angelegten Entwicklungsmöglichkeiten in vollem Umfang in Form eines daraus erwachsenen Spektrums entsprechender Fähigkeiten und Fertigkeiten herauszubilden, handelt es sich dabei um einen gelungenen Prozess der Entfaltung der in ihr angelegten Potentiale.“ Ich mag es lieber etwas einfacher und beschreibe damit die Entdeckung, Entwicklung und Entfaltung einer potentiellen Energie, die in Menschen und Teams veranlagt ist.
Tatsächlich glaube ich, dass dieser Dreiklang wichtig ist, wenn wir von Potentialentfaltung reden. Zunächst muss diese Energie in einem ersten Schritt gecheckt und entdeckt werden, dann in einem 2. Schritt gefördert und entwickelt werden, um sie schließlich – das wäre dann die High Performance des 3. Schritts - zur vollen Entfaltung, also zu Excellenz und Meisterschaft zu bringen.
Schon bei Schritt 1 begegnen wir aber bereits dem Phänomen, dass die meisten Menschen aufgegeben haben, daran zu glauben, dass in ihnen ein riesiges, noch weittestgehend unentdecktes Potential schlummert, in Form einer potentiellen Energie, die noch nicht aktiviert worden ist.
Wie kann das gelingen? Für Schüler haben wir ein Werkzeug entwickelt, dass sich PowerCheck nennt und das sehr erfolgreich seit einigen Jahren an Südtiroler Schulen angeboten wird. Dieser PowerCheck beginnt tatsächlich mit der Behauptung, dass jeder Mensch die geniale, einmalige Kombination von Fähigkeiten, Interessen, Motivationen, Werten, Erfahrungen ist, die ihn/sie weltweit einzigartig machen. Theoretisch. Denn wenn man davon nichts weiß, wenn man sich noch nicht auf die Entdeckungsreise zu diesen verborgenen Schätzen gemacht hat, haben wir nur einen Kristall, der noch im Gestein verborgen ist; die Menschen sehen ihn nicht, er bleibt verborgen. Erst wenn man danach schürft und forscht, kann man den Diamanten finden. Nur ist die Sache oftmals mit dem Diamanten nicht so eindeutig; manches deutet klar darauf hin, anderes bleibt zunächst verborgen, anderes ist nur im Ansatz erkennbar. Manchmal steckt der Diamant auch im Dreck fest. Potential ist also nicht das, was schon klar und deutlich sichtbar ist, sondern was als Möglichkeit angelegt ist. Und deshalb macht sich der PowerCheck auf, Träume, Begeisterungen, Geschichten, Herkunft, Interessen, Werte, Charakter, Persönlichkeitsstärken der Schüler zu erarbeiten, auf der Suche nach ihrem einmaligen Potential, wobei die Trainer getrieben sind von einer Stärken-Orientierung und keiner Schwächen-Dokumentierung.
Deshalb sollte sich eine Schule von Morgen nicht auf das Zertifizieren des Misslingens konzentrieren, sondern am Zelebrieren von Potentialen orientieren. Die große Innovatorin Margret Rasfeld spricht von „unverzweckten Möglichkeitsräumen“, wo es eben Zeit und Opportunitäten gibt, u.a. auch die eigenen Möglichkeiten zu entdecken und zu entfalten.
Aber genau derselbe Grundsatz gilt auch für Unternehmen, denn wenn wir von Potentialentfaltung sprechen, dann sprechen wir vom Einzelnen, wie auch von Teams und Gruppen sowie von Unternehmen (und wir könnten damit beginnen, von einer Potentialentfaltungsstrategie für unsere Gesellschaften zu sprechen; würde uns auch gut tun …).
Um Potentiale in einer Firma zur Entfaltung bringen zu können, braucht es eine fördernde Umgebung und aufbauende, motivierende Bedingungen. Es muss eine Kultur der Ermutigung und der Inspiration geschaffen werden, in der Menschen eingeladen sind, sich nicht nur mit ihrem aktuellen Können, sondern auch mit dem, was noch in ihnen schlummert, einzubringen.
Das beginnt damit, dass jeder Mitarbeiter als individuelles Stärkenfeld gesehen wird, also tatsächlich als „Kapital“ des Unternehmens; davon reden wir zwar immer in der Jahreshauptversammlung, aber ab dem Tag danach wird es meistens wieder vergessen; die Mitarbeiter stehen nur mehr als Kostenpunkt in der Bilanz, aber nicht als Wert, als Vermögen, als Schatz. Werden die Mitarbeiter aber tatsächlich als noch nicht völlig zur Entfaltung gebrachte Ressource betrachtet, als mitunter noch schlummerndes Potential, öffnen sich mitunter neue Möglichkeiten, kulturell aber auch ganz praktisch. Wenn wir vom Human Ressource Management zum Human Ressource Development übergingen, würde sich nicht nur ein Wort, sondern die gesamte Blickrichtung der Mitarbeiterführung ändern.
Führung würde dann bedeuten, Mitarbeiter einzuladen und anzustacheln, sich auch in neue Felder vorzuwagen, eigene Grenzen zu überwinden und zu versuchen, „über sich hinauszuwachsen“. Diese Redewendung zeigt, wie falsch wie bisher gelegen sind: Man kann gar nicht über sich hinauswachsen, man kann nur Leistungen erbringen, die man sich selbst noch nie zugetraut hatte. Über sich hinauswachsen bedeutet, das Potential auszuschöpfen, das bisher ungenutzt und unentdeckt dahin schlummerte. Eine Kultur der Begeisterung und der Sinnhaftigkeit kann ungemein ansteckend sein und tatsächlich bisher Unvermutetes zu Tage bringen.
Eltern, Schüler, Manager, Leader sollten sich bemühen, neben dem sehr realistischen Blick – den sie weiterhin brauchen werden – auch eine visionäre Sichtweise zu entwickeln: Nicht nur das sehen, was heute ist, sondern was morgen sein könnte.
Einige werden das nicht wollen. Wer in seiner Komfort-Zone verbarrikadiert ist und bleiben will, tut Dienst nach Vorschrift, Job nach Description - „das kann ich und das tu ich“. Ängstliche Mitarbeiter habe meist keine große Veranlagung zum Fliegen und viele glauben einfach nicht daran, dass in ihnen mehr schlummert, als allgemein angenommen wird. Aber ich habe erlebt, dass Menschen neugierig werden, wenn man sie einlädt auf eine Entdeckungsreise zu sich selbst zu gehen; sogar Smombies (Smartphone Zombies) hören meistens hin, wenn man sie einlädt, das Gold in ihren noch verborgenen Adern zu entdecken.
Und wer einmal entdeckt hat, dass Ungeahntes in ihr/ihm schlummert, wird daraus enorme Motivation erlangen, die konkret in die Arbeitsleistung einfließen kann.
Wie beginnt man? Mit einem Check, es gibt einiges (allerdings nicht sehr viel Gutes) auf dem Markt! Leider schwächeln m.E. die meisten der angebotenen Potential-Analyse-Instrumente. Sie fragen zu häufig Standards ab und gehen zu selten und zu wenig auf die intrinsischen Treiber wie persönliche Begeisterung oder individuelle Neugier ein. Aber ein erster Check gibt eine Standortbestimmung.
Das ist aber nur der Anfang, denn damit beginnt erst der Entdeckungsparcours. Lebenslanges Lernen eröffnet Perspektiven und deshalb tun Unternehmen gut daran, Lernambientes und -möglichkeiten zu schaffen. Aber nicht durch aufoktroyierte Seminare, wo nur der Personaler meint, sie würden den Mitarbeitern guttun. Potentialentfaltende Weiterbildung muss 1. freiwillig, 2. begeisternd und 3. möglichkeitsbeflügelnd sein, also individuell ausgerichtet und inspirierend und vor allem neugierig machen auf sich selbst und was man kann. „Lernen ist Erfahrung, alles andere ist einfach nur Information“ (Albert Einstein).
Das wird besonders wichtig, wenn es um die High Potentials geht. Hier steckt das Problem schon im Namen, denn die High Potentials der Millennials-Generation wissen, dass sie solche sind – und entsprechend auf dem Markt gesucht werden. Sie haben ihr hohes Potential (teilweise) schon entdeckt und sind auf jeden Fall scharf darauf, es weiterzuentwickeln. Sie wollen ihre Performance zeigen können. Deshalb wollen High Potentials bereits bei der Anstellung wissen, welche Entfaltungsmöglichkeiten sie im Unternehmen bekommen werden.
High Potentials wollen ihre Karrieren selbst in die Hand nehmen und brauchen und suchen permanent Schulungen ebenso wie Entwicklungschancen, denn sie wollen wissen, wie sie durch und mit ihrem Potential tatsächlich auch die Firma weiterbringen können. Deshalb entwickelt man am besten mit ihnen zusammen einen Potential-Entfaltungs-Plan, der dann zum Vorteil aller gereichen kann, des Unternehmens wie des Mitarbeiters.
Wer In Zukunft hoch fliegen will, muss zunächst andere beflügeln können.