Jede Erholung aus einer schwerwiegenden Krisensituation erfolgt nach Paul Donders in 4 Phasen: Überleben-Bewältigen-Wiederherstellen-Transformieren. Führungskräfte müssen diese Phasen nicht nur unterscheiden können, sondern sich immer in zwei davon gleichzeitig bewegen. Gerade auf Menschen in Verantwortung kommen in jeder dieser Phasen besondere Pflichten und Haltungen zu.
Wenn man so quasi über Bord geworfen worden ist und im aufgewühlten Ozean von den Wellen hin und her gepeitscht wird, ist Überleben das Wichtigste. Jede Krise beinhaltet einen Verlust-Schock: Was war, ist nicht mehr, gefolgt von einer Klage- und Wutphase: „Warum ist gerade uns das passiert?“, „Wer trägt dafür die Verantwortung?“, natürlich mit allerlei Geschimpfe auf Politiker und Behörden. Hier landet man gerne in der Depression: „Nicht schon wieder“, „warum ist das alles so hoffnungslos“, „wo ist das Licht am Ende des Tunnels?“ Mitarbeiter brauchen in dieser Phase viel Mitgefühl und Empathie, sie wollen gesehen und gehört und in ihren Ängsten und Sorgen wahr- und ernstgenommen werden. Donders erwähnt hier gerne das Beispiel eines Schuldirektors, der in der ersten Lockdown-Phase jeden Tag seinen über 100 Lehrern und über 1000 Schülern eine persönliche Mail zur Aufmunterung schrieb.
In dieser Phase der Unsicherheit, wo nichts mehr ist wie früher, brauchen die Menschen nicht nur eine Art neuen täglichen Rhythmus, sondern auch das Gefühl, etwas (auch wenn nur Kleines) geleistet zu haben. Ein Leader gibt seinen Leuten in dieser Phase täglich Halt, beruflich wie privat, kleine Erfolge, an die sie sich klammern können.
In der darauffolgenden 2. Phase hat man das Rettungsboot erreicht, aber nichts ist mehr wie früher. Es geht darum, wieder geregelt zu atmen zu beginnen, akzeptieren, was da ist (und dass es nicht mehr ist wie früher) und sich in dieser neuen Realität zurecht zu finden. Hier braucht es anpassungsfähige, resiliente und kommunikative Führungspersönlichkeiten. Adaptieren, sich anpassen, meint die Fähigkeit, sich auf die eigenen Stärken und Fähigkeiten zu besinnen und mit den neuen Erfordernissen zu matchen, in Einklang zu bringen. Wie passen diese nun zu den neuen Erfordernissen der Kunden (die ja auch „aus der Krise“ kommen)? Gut, wenn man Resilienz trainiert hat, als Leader und als Mannschaft, denn man hat gelernt, sich zu biegen, ohne zu brechen. Elementar wichtig ist in dieser Phase die stete Kommunikation, täglich, wöchentlich, und zwar ehrlich, menschlich, informativ und hoffungsvoll. Gut, wenn man Werte definiert hat, auf die man sich nun berufen kann. Und noch besser, wenn man als Unternehmen einen Sinn für sich etabliert hat.
In dieser Phase wird das Schiff wieder auf Vordermann gebracht. Repariert. Die Mitarbeiter und das gesamte Unternehmen werden fit gemacht für eine neue Reise. Es braucht neue Energien, neue Kompetenzen, neue Visionen, neue Ideen. Ein Leader ist in dieser Phase wie ein Architekt, denn es müssen neue, effiziente Strukturen gebaut werden auf der Basis der fundamentalen Firmenwerte. Die Mission muss u.U. neu geschärft werden, ebenso muss man sich mit der eigenen DNA und der Firmenkultur beschäftigen. Ein charismatischer Leader schafft in dieser Phase eine begeisternde, inspirierende Vision, die von den Mitarbeitern mitgetragen werden kann. Wenn man eh neu starten muss, sollte Mittelmäßigkeit kein Thema mehr sein; jeder Mitarbeiter soll jetzt auf Exzellenz eingeschworen werden, der Neustart braucht keine Bremsklötze. Der Kapitän ist Vorbild und Motivator, und am meisten kann er motivieren, indem er neue, potentielle Leader ermächtigt und begeistert.
Wir sind in Phase 4. Das Schiff ist nun wieder seetauglich. Jetzt sollte man es nicht dafür verwenden, die alten Küsten auf und ab zu fahren, sondern um neue Meere und Kontinente zu erkunden. Dafür wird man sich neue Kompetenzen zulegen müssen. Zu hoffen, dass keine Krise mehr kommen wird, ist keine Strategie. Wir leben in einer Welt, in der die Krisen dazugehören werden; es wird uns bald schon wieder ein neuer Sturm ins Gesicht blasen. Aber durch die neuen Winde kann man sich auch in die Lüfte erheben lassen, um über gewohnte Horizonte hinwegzuschauen. Man kann nun ein neues Denken designen, für sich selbst und für das Unternehmen, denn – nach Prof. H. Hemel – „die Werte des Leaders sind de-facto der Wertekanon des Unternehmens“. Es geht nun darum, eine neue Kultur in der Organisation zu implementieren.
Wie gesagt, Leader bewegen sich immer in zwei Phasen gleichzeitig. Im Überlebensmodus (1) muss nicht nur gewährleistet werden, dass der Betrieb nicht untergeht, man wird zusammen mit dem Team strampeln, aber man wird zugleich Ausschau halten nach einer rettenden Planke, nach einem Rettungsboot. In der Phase der Bewältigung (2) wird man die Mannschaft unterstützen, wieder zu Kräften zu kommen, aber zugleich schon darauf achten, wie man das havarierte Schiff wieder herstellt und fahrtüchtig bekommt. Und ist das Team am Wiederherstellen (3) sieht sich ein Leiter bereits nach günstigen Winden um, auf denen man in die Zukunft segeln kann.
Es lohnt sich, für sich selbst und für die eigenen Organisation darüber zu reflektieren, in welcher Phase man sich befindet und was die Mannschaft aktuell am meisten bräuchte. Deshalb stelle ich in meinem Leadership-Seminar "Führen in der Krise" am Anfang gerne als Check In die Frage: "In welchem Meer sind Sie denn aktuell unterwegs?" Es ist erstaunlich, wie schnell diese simple Frage imstande ist, die Situation der Teilnehmenden auf den Punkt zu bringen. Von da an ist es nun ein kleiner Schritt, das geniale Cynefin Framwork und auch die Stacey Matrix gut zu verstehen. Daraus wird wiederum klar, warum eine komplexe Welt mit den Werkzeugen der komplizierten Welt nicht mehr zu bewältigen ist. Deshalb brauchen wir - zusätzlich zu den herkömmloichen Tools - neue Prinzipien, neue Grundsätze, neue Herangehensweisen, aber auch neue Intelligenzen und neue Werkzeuge für die VUCA-Welt.
Es zahlt sich jedenfalls aus, in Resilienz zu investieren, in persönliche, in die der Teams, aber auch in unternehmerische Resilienz und Antifragilität. Und zwar bevor der nächste Sturm kommt.
Überleben, Bewältigen, Wiederherstellen (Alwi Alydrus auf Unsplash)